
Große Entscheidungen warten auf die Politik

Thorsten Rathje (Hamburger Volksbank)
und Prof. Dr. Henning Vöpel (Centrum für Europäische Politik)
Prof. Dr. Henning Vöpel, Ökonom und Vorstand des Centrums für Europäische Politik, sprach beim Neujahrsemfang der Hamburger Volksbank über Konjunkturaussichten und Zukunftsaufgaben. Sein Fazit: Die konjunkturellen Aussichten sind besser als erwartet. Damit sind die großen Zukunftsfragen aber nicht beantwortet. Die Politik darf sich von einer besseren Konjunktur nicht blenden lassen, sondern muss entschlossen an den Zukunftsthemen arbeiten.
Stimmen Sie zu, dass sich das Jahr 2023 besser entwickeln wird als zunächst vorausgesagt?
Henning Vöpel: Eindeutig ja. Noch im Oktober letzten Jahres hatten wir eine deutlich schlechtere Prognose und sind von einer bevorstehenden Rezession ausgegangen. Jetzt entwickeln sich viele Dinge besser, als wir befürchten mussten: Die Inflation scheint ihren Höhepunkt überschritten zu haben, die Lieferketten sind wieder etwas stabiler geworden und wir konnten einen Energienotstand in diesem Winter vermeiden. Damit zeichnet sich ab, dass wir im Jahr 2023 an einer Rezession vorbeischrammen.
Dennoch befindet sich die Welt nach wie vor in einer Polykrise. Haben wir gelernt, besser damit umgehen?
Henning Vöpel: Hier müssen wir unterscheiden: Dass wir konjunkturell besser aus den Krisen kommen, heißt mitnichten, dass wir damit auch alle Probleme gelöst hätten. In wesentlichen Politikfeldern sind wir nicht entscheidend vorangekommen, Stichwort Energiewende: Deutschland hat die Klimaziele verfehlt, der Ausbau der erneuerbaren Energien ist ins Stocken geraten. Auch bei der Digitalisierung liegen wir seit Jahren hinter dem zurück, was wir uns vorgenommen haben. Hinzu kommt das demografische Problem. Es fehlen Fachkräfte, um Prozesse zu automatisieren. Und die ungelöste Rentenproblematik. Die Politik darf sich von einer besseren Konjunktur nicht blenden lassen, sondern muss entschlossen und mutig an den Zukunftsthemen arbeiten.
Wofür wird das Jahr 2023 stehen? Welche wichtigen Entscheidungen sind zu treffen?
Henning Vöpel: Die einzige Möglichkeit, gegen zukünftige Krisen resilienter zu werden, besteht darin, uns zu transformieren. Das heißt, wir müssen die Grundlagen unseres Wohlstands, unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft überdenken und entsprechend erneuern. Das ist unter dem Begriff der „Zeitenwende“ zu verstehen. Vor diesem Hintergrund und mit diesem neuen Bild von Zukunft ist 2023 ein wichtiges Jahr, um wichtige Weichenstellungen für die nächsten Jahre vorzunehmen. Wenn es uns nicht gelingt, die wesentlichen Themen voranzutreiben, werden wir unweigerlich in die nächsten Krisen hineinlaufen.
„Nachhaltigkeit ist einer der ganz großen Standortfaktoren der Zukunft.“ – Henning Vöpel
Der heutige Neujahrempfang findet im Hammerbrooklyn statt, das Sie als „Stadt der Zukunft“ mit initiiert haben. Was bedeutet das?
Henning Vöpel: Wir sehen, dass sich gerade auch Städte unter dem Druck des Klimawandels und der Digitalisierung massiv verändern müssen. Städte waren immer Orte der Avantgarde, der kulturellen und technologischen Veränderung – und das werden sie jetzt auch wieder sein: Die ursprüngliche Idee von Hammerbrooklyn war deshalb, in einer relativ etablierten und wohl ausgeformten Stadt wie Hamburg einen Ort zu schaffen, an dem wir noch dichter am Puls der Veränderung sind: Dinge ausprobieren, experimentieren und in diesem Sinne Labor zu sein für eine Stadt der Zukunft – zukünftige Entwicklungen vorzudenken – und umzusetzen.
Wie wird sich die Hamburger Wirtschaft entwickeln?
Henning Vöpel: Hamburg hat das Glück, sich noch auf einem sehr hohen Wohlstandsniveau zu befinden. Die Gefahr ist, dass wir einer Vermögensillusion unterliegen. Denn ich beobachte, dass viele strukturelle Grundlagen unseres Wohlstands brüchiger geworden sind. Unser Wohlstand ist nicht ewig garantiert. Wir müssen uns um eine Erneuerung kümmern, zum Beispiel im Hinblick auf den Hamburger Hafen, der in seiner jetzigen Positionierung nicht länger ein Wachstumstreiber für die Zukunft sein wird. Der Zustand der Hamburger Wirtschaft ist nach wie vor gut, aber wir müssen mutiger und mit einer größeren Geschwindigkeit die Dinge verändern, damit das auch so bleibt.
Welche Rolle spielt dabei das Thema Nachhaltigkeit. Wird Hamburg die gesetzten Klimaziele erreichen?
Henning Vöpel: Nachhaltigkeit ist einer der ganz großen Standortfaktoren der Zukunft. Das Pariser Klimaabkommen verpflichtet alle Länder zum „Fair Share“, das heißt, ihren Anteil zur Erreichung dieser Ziele beizusteuern. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Standorte zurückfallen werden, die sich nicht an der nachhaltigen Entwicklung beteiligen – mit einer nachhaltig ausgerichteten Wirtschaft und dem Einsatz entsprechender Technologien. Hier kann Hamburg noch besser werden. Es geht nicht einzig darum, Fahrradwege zu bauen, sondern die Industrie und die Energieversorgung klimaneutral zu gestalten. Der Nachhaltigkeitsbegriff geht weiter: Es geht um inklusive Technologien und eine resilientere Gesellschaft. Wir werden den Klimawandel nicht aufhalten können, also müssen wir ebenso in die Resilienz investieren, damit wir uns an die Klimafolgen anpassen können.